“Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut.
Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt.
Früher waren sie Kinder,
dann wurden sie Erwachsene,
aber was sind sie nun?
Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.”
Erich Kästner

Sonntag, 26. Juli 2015

Bald im Kino / Neu im Kino

Ich und Kaminski



    Inhaltsangabe 


    Mit kleineren Gelegenheitsarbeiten schlägt sich Sebastian Zöllner (Daniel Brühl) nach seinem Kunstgeschichtsstudium so durch, aber nun hat er einen ganz großen Fisch an der Angel: Er schreibt die Biografie des Malers Manuel Kaminski (Jesper Christensen), der, entdeckt und gefördert einst von Matisse und Picasso, durch eine Pop-Art-Ausstellung, seine dunkle Brille und die Bildunterschrift "Painted by a blind man" weltberühmt wurde. Inzwischen lebt Kaminski zurückgezogen in den Alpen und ist ein wenig in Vergessenheit geraten. Soll die Biografie noch rechtzeitig zum Ableben fertig werden – und dieser Termin lässt natürlich größere Aufmerksamkeit erwarten – dann ist Eile geboten. Zöllner, der zunächst mit alten Freunden und Feinden, mit Sammlern und Galeristen gesprochen hat, macht sich zum Objekt seiner Begierde auf den Weg, um exklusive O-Töne zu bekommen. Womit er nicht gerechnet hat: Kaminski ist abgeschirmt durch ein ganzes Heer von Vertrauten, und als es dem Biografen endlich trickreich gelingt, die Bewacher loszuwerden und den Maler auf eine tagelange Reise im Auto mitzunehmen, erkennt er, dass er dem Alten, blind oder auch nicht, in keiner Weise gewachsen ist.


    Heil

     


    Erzählt wird die Geschichte des afrodeutschen Autors Sebastian Klein (Jerry Hoffmann), der auf Lesereise in dem ostdeutschen Grenzort Prittwitz von den ortsansässigen Neonazis mit einem Schlag auf den Kopf begrüßt wird. Fortan plappert er alles nach, was man ihm sagt. Sofort wittert der (An-)führer der Neonazis Sven (Benno Führmann) seine Chance: Ein "Schwarzer", der sich gegen Integration und Ausländer stellt, könnte ihn endlich zum (Meinungs-)führer in Deutschland machen, so dass er seine angebetete Nazi-Braut Doreen (Anna Brüggemann) mit einem Überfall auf Polen beeindrucken kann. Allerdings hat sich Sebastians schwangere Freundin Nina (Liv Lisa Fries) bereits auf die Suche nach ihrem Freund gemacht – und schon bald mischen auch verschiedene Staatsschutzorgane mit.

      Das sind nur die Grundzüge der Handlung von Heil, aus denen Dietrich Brüggemann eine teilweise wahnwitzige Komödie entwickelt, in der fast jede Personengruppe persifliert und karikiert wird. Es gibt Politiker, die aus Sorge um das Image ihres Ortes nicht über Neonazis sprechen wollen, liberale Intellektuelle, die über Definitionen und Zuschreibungen streiten, und eine Antifa, die vor lauter Demokratie und Korrektheit nicht mehr aktiv sein kann. Hinzu kommen Seitenhiebe auf die Deutsche Bahn, so macht der Schienenersatzverkehr den Angriff auf Sebastian erst möglich, Neonazi-Versteher wie den gutmütigen Polizisten Sascha (Oliver Bröcker), der glaubt, Doreens Haltung sei gemäß des Ärzte-Songs nur ein Schrei nach Liebe, und Gerichtsverfahren, in denen sich die Justiz tatsächlich als blind auf dem rechten Auge erweist. Das sind aber alles nicht bloße Gags, sondern Dietrich Brüggemann spricht mit seinem Film bittere Wahrheiten aus: über die Inkompetenz des Verfassungsschutzes und weiterer "Sicherheitsbehörden", bei denen die Angst vor Spionage weitaus größer ist als die Sorge um demokratische Freiheiten und ein "Gott sei Dank" darüber geäußert wird, dass die Zeiten nun vorbei seien, in denen die Politik noch die Arbeit des Verfassungsschutzes behindere; über Medien, die sich jeglicher Komplexität verweigern, sondern nur noch Floskeln von sich geben und nach Emotionalität gieren; einer Polizei, die Racial Profiling betreibt und bei einem Überfall auf einen türkischen Kiosk erst einmal die Besitzer einer Alkoholkontrolle unterzieht, statt ihre Aussage aufzunehmen, und ebenso wie der ostdeutsche Bürgermeister ignorieren will, dass Neonazis Täter sein könnten; und eine Bevölkerung, die fast erleichtert darauf reagiert, dass nun ein "Ausländer" etwas über "Ausländer" sagt und es damit gewissermaßen gesellschaftlich akzeptabel macht. 



      Darüber hinaus nimmt Brüggemann in einer Sequenz, in der er selbst in einer Talkshow auftritt, die Diskurse vorweg, die vermutlich angesichts seines eigenen Films einsetzen werden – über die deutsche Komödie, die nicht lustig sei und die Frage, ob man überhaupt über Nazis Witze machen dürfe. Letzteres beantwortet Heil mit einem sehr deutlichen ja – und zeigt, dass man sie sogar machen muss. Denn der Witz hat eine subversive Kraft, die oft unterschätzt wird. Diese Wirkung entfaltet der Film immer, wenn er sehr genau die Sprachmuster und Verhaltensweisen der jeweiligen Gruppierungen aufgreift und wiedergibt, dazu gehören die ewigen Diskussionen der Antifa ebenso wie in Talkshows und das Bemühen um eine nicht hierarchische Sprache. Dadurch verweist der Film zugleich auf gesellschaftliche Tendenzen wie den "Nipster", den Nazi-Hipster, der nun eben nicht mehr nur in ostdeutschen Jugendzentren arbeitet und dort Nachwuchs rekrutiert, sondern sich auch in Hamburg betont lässig und hip kleidet, um den gängigen Klischees der Glatze und Springerstiefel zu entkommen. Hinzu kommen Figuren, die allesamt gut gespielt werden, amüsante Gastauftritte, unter anderem von Andreas Dresen und Heinz Rudolf Kunze, und eine Inszenierung, in der sich Brüggemann visuell von dem realistischen Sozialdrama über die romantische Komödie bis hin zur Ästhetik des amerikanischen Kriegsfilms sicher bewegt. Deshalb verzeiht man dem Film Längen im Mittelteil und den ein oder anderen totgelaufenen Running Gag, zumal er – ehe er droht, vollends redundant zu werden – in einem furiosen Schlusskampf mündet. 



      Sonja Hartl
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