“Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut.
Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt.
Früher waren sie Kinder,
dann wurden sie Erwachsene,
aber was sind sie nun?
Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.”
Erich Kästner

Freitag, 2. Dezember 2011

Wiener Kaffeehäuser

Die Wiener Kaffeehäuser sind zum immateriellen Kulturerbe erklärt worden

Kaffeeklatsch im Weltkulturerbe: Das ist seit Donnerstag in Wien möglich, denn nun gehört die für Wien typische Kaffeehauskultur zum Unesco-Weltkulturerbe. Doch nicht nur die von der Unesco genannten Marmortischchen, Logen und Details der Innenausstattung im Stil des Historismus tragen nun den Titel. Wohlgemerkt gehört die gesamte Kultur dazu, die spezielle Atmosphäre der seit Ende des 17. Jahrhundert existierenden Kaffeehäuser, weswegen der Klub der Wiener Kaffeehausbesitzer die Anerkennung auch als immaterielles Kulturerbe beantragt hatte.


Weltkulturerbe

Wiener Kaffeehauskultur ist immaterieller Schatz


Die Kaffeehäuser der österreichischen Hauptstadt werden von der Unesco als Weltkulturerbe aufgenommen. Die typischen und einzigartigen Cafés gelten als ein Zentrum der Tradition und Zufluchtsort abseits der Hektik der Stadt. Werfen Sie einen Blick auf das geschätzte Geheimnis Wiens.


Selbst ein schönes Kunstwerk
Das Kaffeehaus im Kunsthistorischen Museum in Wien ist ein typisches Beispiel der einmaligen wienerischen Kaffeehauskultur. Diese Kultur gehört nun zum immateriellen Kulturerbe der Unesco.

 WIENER KAFFEEHÄUSER
Autor: Oliver Jeges|12.11.2011

Wo Sigmund Freud über Penisneid dozierte

Die traditionsreiche Kaffeehauskultur Wiens gehört jetzt zum Unesco-Weltkulturerbe. Schon immer waren die Cafés gesellschaftlicher Hotspot.
"Im Kaffeehaus", sagte der scharfzüngige österreichische Erzähler Alfred Polgar einmal, "im Kaffeehaus sitzen Leute, die alleine sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen." Und damit traf Polgar auch schon den Kern dessen, was die Wiener Kaffeehäuser so speziell macht.
Zu Gast in Wiener Kaffeehäusern



Café Central  Foto: Irene
Kennen Sie das Ehepaar auf den Gemälden?

Sie dienen im Grunde dazu, ungestört den eigenen Gedanken nachzuhängen. Eine Auszeit von der großstädtischen Hektik einzufordern. Sie bieten Raum, den stillen Beobachter zu spielen, um die bunte Vielfalt der Gäste und ihre Verhaltensweisen zu studieren.
Nur wenige Jahre, bevor Polgar diese treffenden Sätze formuliert hat, erreichte die Wiener Kaffeehauskultur ihren Höhepunkt. Es war die Jahrhundertwende um 1900, die Zeit des Fin de siècle. Aufbruch- und Endzeitstimmung verschwammen zu einem kreativen Gebräu, das letztlich eine ganze Reihe von Dichtern und Denkern zu ihren Werken inspirierte.



Café Sperl Fotos: Irene

Diskussionen über die Gründung Israels

Was in den Kaffeehäusern geschah, kann man sich in etwa so vorstellen:Sigmund Freud dozierte stundenlang über Penisneid, hysterische Frauenzimmer und wie es möglich sei, seine eigene Mutter für heiß zu befinden. Arthur Schnitzler versuchte im Hinterzimmer seinen "Bewusstseinsstrom" in Form seiner "Traumnovelle" zu Papier zu bringen. Und Hugo von Hofmannsthal bereitete seinen Dauerbrenner, den "Jedermann" für die Salzburger Festspiele vor.
Und noch eine große Idee wurde in den Räumlichkeiten der Wiener Kaffeehäuser, wenn nicht erfunden, dann zumindest vertieft: die Geburt des heutigen Israels. Es ist der Entwurf des Kaffeehausliteraten Theodor Herzl. Im Wiener Café Landtmann an der Ringstraße diskutierte der mit Zeitgenossen die Idee eines Judenstaates, des politischen Zionismus, der 1948 in Form des modernen Staates Israel Realität wurde. Weltpolitik bei Melange und Sachertorte.
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All diese Geistesriesen lebten in Wien und gingen ein und aus in den zahlreichen Wiener Kaffeehäusern, die ihnen als zweites Zuhause und als Umschlagplatz für ihre Ideen dienten. Weil viele Intellektuelle zu jener Zeit praktisch in den Kaffeehäusern "wohnten", wie etwa der Schriftsteller Peter Altenberg, konnte man seine Abendgarderobe schon morgens im Kaffeehaus hinterlegen, um sich abends in einem Separée für die Nacht umzuziehen. In der Regel gab es nach sechs Uhr abends live gespielte Klaviermusik zur Unterhaltung.
Die als Wiener Moderne in die Geschichte eingegangene Epoche wurde maßgeblich von der Wiener Kaffeehauskultur geprägt. Sie bot ungezählten Intellektuellen eine Plattform zum verbalen Austausch, als Arbeitsplatz und Freizeitort. War man wer, so musste man ganz einfach ins Kaffeehaus, denn dort wurden Entscheidungen getroffen, Theorien erdacht, Kunstbegriffe entwickelt.
André Heller, der große österreichische Tausendsassa, wuchs in den 1960ern praktisch im Café Hawelka auf. Täglich ging er nach der Schule dort hin, um schon als Jugendlicher mit künstlerischen Lokalgrößen wie Helmut Qualtinger, H.C. Artmann oder Friedrich Torberg über Gott und die Welt zu philosophieren.

Die ersten Kaffeehäuser gab es im Osmanischen Reich

Und auch Thomas Bernhard, der österreichische Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlechthin, konnte nicht ohne Kaffehaus auskommen. In seinem Stammcafé, dem Bräunerhof in der Wiener Innenstadt, perfektionierte er höchstwahrscheinlich seine pessimistische Weltanschauung.
Dass diese Institution nun als Unesco-Weltkulturerbe ausgezeichnet wird, nimmt also nicht wunder. Hat sie doch über Jahrhunderte des Wieners Leib- und Seele zusammengehalten.Das erste Wiener Kaffeehaus, so will es die Legende, gründete ein Mann namens Johann Diodato im Jahr 1685. Er war Armenier oder Grieche, so genau weiß man das heute nicht mehr.
Jedenfalls wurde besagter Herr in Istanbul geboren, einem der Entstehungsorte des Kaffeehauses. Die Idee, das koffeinhaltige Heißgetränk in Gaststätten auszuschenken kommt aus dem osmanischen Reich und fand – vermutlich – über Diodato den Weg in die Habsburgermetropole.
Von der ersten Erwähnung im 9. Jahrhundert in Äthiopien bis zur Wiener Kaffeehauskultur hunderte Jahre später legte die schwarze Bohne eine lange Reise mit vielen Umwegen zurück. Über Mekka, Kairo und Damaskus fand der Kaffee als Getränk schließlich in das osmanische Reich, um von dort aus endgültig nach Wien zu gelangen. In der Spitzenzeit der Kaffeehauskultur um 1900 gab es in Wien bereits an die 600 Kaffeehäuser, mittlerweile sind es mehr als 1000 in der österreichischen Hauptstadt.
Heute tobt ein unterschwelliger Kulturkampf zwischen alteingesessenen Wiener Kaffehausbetreibern und internationalen Ketten wie "Starbucks", die weder bei Preis noch Interior mit den Traditionscafés mithalten können. Doch die schicken modernen Ästhetiktempel, die heute gerne aufgrund ihrer Latte Macchiato schlürfenden MacBook-Nutzer-Gäste belächelt werden, sind keine neue Erfindung. Kaffeehäuser dienten immer schon als outgesourcter Arbeitsplatz.

Kaffeehäuser sind das zweite Zuhause der Wiener



So werden Kaffee und Kuchen serviert  Foto: Irene

Heute geht man nicht mehr wegen einer Melange oder der großen Auswahl an Tages- und Wochenzeitungen, sondern wegen drahtlosem Internet ins Kaffeehaus. Dort sitzen Studenten, die an ihren Semesterarbeiten feilen, genauso wie Professoren, Arbeitslose oder Freelancer, die von hier aus ihre Geschäfte regeln.
Ausgezeichnet wurde mit der Unesco-Adelung in erster Linie die einzigartige historische Einrichtung, die den Charme der Wiener Kaffeehäuser ausmacht: die dunkle Holzvertäfelung, die kühlen Marmortischplatten, die Thonet-Stühle, die roten Samtbänke, die überdimensionalen Kronleuchter und das leicht herunter gedimmte Licht. Wien lebt von seiner Vergangenheit. Von Monarchie und Jugendstil, von klassischer Musik und Architektur. Doch diese Vergangenheit hat sich nirgendwo so manifestiert wie in den Kaffeehäusern – dem zweiten Zuhause der Wiener.

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