“Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut.
Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt.
Früher waren sie Kinder,
dann wurden sie Erwachsene,
aber was sind sie nun?
Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.”
Erich Kästner

Sonntag, 9. Oktober 2011

Viaje con Clara por Alemania

Buchempfehlung
Viaje con Clara por Alemania, von Fernando Aramburu



Autor: Fernando Aramburu
Verlag: Tusquets Editores Barcelona 2010, 467 Seiten
GutachterIn: Francisco Uzcanga Meinecke

Der neueste Roman des spanischen Schriftstellers Fernando Aramburu beschreibt eine Reise durch Norddeutschland. Protagonisten der Reise sind die deutsche Schriftstellerin und Gymnasiallehrerin Clara, die von einem Verlag beauftragt wird, einen persönlichen, literarischen Reiseführer zu schreiben, und ihr spanischer Ehemann, der sich bereit erklärt sie auf der Reise zu begleiten.

Fernando Aramburu (San Sebastián, 1959), Lyriker und Erzähler, gehört zu den herausragenden Schriftstellern der spanischen Literatur der Gegenwart. Als Mitbegründer in seiner Jugend der surrealistischen Gruppe CLOC begann Aramburu seine literarische Laufbahn als Lyriker, sowohl in baskischer als auch in spanischer Sprache. In den achtziger Jahren konnte er zwei Lyrikbände veröffentlichen, El librillo und Ave Sombra / Itzal Egatzi und im Jahre 1993 wurde er von der Universidad del País Vasco mit der Herausgabe seiner bis dahin verfassten gesamten Lyrik in einem zweisprachigen Gedichtsband geehrt: Bruma y conciencia / Lambroa eta kontzientzia. Einem breiteren Publikum wurde Aramburu im Jahre 1996 mit der Veröffentlichung von Fuegos con limón bekannt, einem stark autobiographisch gefärbten Bildungsroman, der das Weilen einer Gruppe von Jugendlichen mit literarischen Ambitionen im San Sebastián der siebziger Jahre schildert. Es folgten in den nächsten Jahren weitere Romane und Erzählbände, mit denen Aramburu seine wichtige Stellung als Prosaschriftsteller festigen konnte: Los ojos vacíos (2000), El artista y su cadáver (2002), El trompetista del Utopía (2003), Bami sin sombra (2005) und Los peces de la amargura (2006). Insbesonders dieses letztere Buch, eine Sammlung von zehn Kurzgeschichten, in denen die Terroropfer der ETA im Mittelpunkt stehen, erregte in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit, schon allein wegen ihrer durchweg hohen literarischen Qualität, jedoch vor allem aufgrund der Tatsache, dass es ein baskischer Schriftsteller wagte, über ein so polemisches, schmerzhaftes, sogar tabuisiertes Thema zu schreiben. Eine zusätzliche Information, die im Hinblick auf das hier zu besprechende Buch relevant scheint, ist, dass Fernando Aramburu seit über 25 Jahren in Deutschland lebt, zunächst als Lehrer für spanische Immigrantenkinder in Lippstadt und seit einigen Jahren als freiberuflicher Schriftsteller in Hannover. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat zwei Töchter.
Mit seinem Roman Viaje con Clara por Alemania (Eine Reise mit Clara durch Deutschland) hat Fernando Aramburu eine Wende vollzogen. Handelte es sich bei Los peces de la amargura um eine nüchterne und gnadenlose Bestandsaufnahme der Leiden der Terroropfer und der moralischen Dekadenz von Teilen der baskischen Gesellschaft, so ist Viaje con Clara por Alemania –zumindest nach einer ersten Lektüre– ein heiterer, komischer Reiseroman, der, um zwei Klassiker zu nennen, in der Tradition des Sentimental Journey von Laurence Sterne oder des Jacques le Fataliste von Denis Diderot eingebettet werden könnte. Protagonisten des Romans sind die deutsche Schriftstellerin und Gymnasiallehrerin Clara, die von einem Verlag beauftragt wird, einen literarischen Reiseführer zu schreiben, und ihr spanischer Ehemann –Ich-Erzähler des Romans–, der sie als Chauffeur, Fotograf, Koch, Krankenpfleger, Psychotherapeut, ja, zuweilen auch als Diener, bei ihrer Reise durch Norddeutschland begleitet. Bedingt durch den Auftrag der Ehefrau führt die Reise vor allem durch kulturtouristische Orte Bremens, Hamburgs, Niedersachsens, Schleswig-Holsteins, Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs und Berlins: die Künstlerkolonie in Worpswede, das Haus von Arno Schmidt, eine Wanderung im Harz auf den Spuren von Heinrich Heine, das Buddenbrookhaus in Lübeck oder die Gräber Bertolt Brechts und Heinrich Manns in Berlin. Da aber die Ereignisse durch die Perspektive des Ehemannes und Begleiters geschildert werden, der schon von Anfang an wenig Respekt und Interesse für den Kulturtourismus zeigt, fokussiert sich der Reisebericht vor allem auf die alltäglichen Begebenheiten –Umplanungen, Zwischenfälle, Staus– und auf die menschlichen Begegnungen –zum Teil auch skurrile wie z. B. das Abendessen mit dem radikalen Umweltschützer Wolf-Dieter–. Es ist aber vor allem die Beziehung zur eigenen Frau, die das Interesse des Ich-Erzählers während der gesamten Reise immer mehr in Anspruch nimmt; viele Seiten widmet er der Schilderung der Schaffenskrisen und Migräneanfälle seiner Frau, der eigenen Unzulänglichkeiten, der ständigen Zankereien und Versöhnungen zwischen der „Señora escritora“ und der „Ratón (Maus)“ –wie er von seiner Frau genannt wird–, die in Form von „Szenen einer Ehe“ den Verlauf der Reise bestimmen. Somit bietet dieser Roman eine doppelte Perspektive; als Reisebericht einen Blick nach außen, auf die bereisten Orte und Landschaften während eines warmen norddeutschen Sommers; und als Notizbuch einen Blick nach innen, auf die Beziehung eines alternden Paares, das auf humorvolle und liebenswürdige Art entlarvt wird.
Die Prosa Aramburus verfügt über viele Register. Schon nach seinem ersten Roman wurde er als „klassischer Schriftsteller“ bezeichnet, wobei hier sowohl die elegante, hypotaktische Konstruktion der Sätze gemeint war als auch die Wiedereinführung vieler Termini, die in der heutigen spanischen Sprache nicht mehr geläufig sind. Bedingt durch die gewählte Stimme –ein Schreiberling, der ohne literarische Ansprüche die alltäglichen Ereignisse, meistens abends während des Kochens, in seinem Notizbuch skizziert– überwiegt in diesem letzten Roman Aramburus der umgangssprachliche Ton; die Prosa fließt natürlich, gespickt mit Redewendungen, die der gesprochenen Sprache entlehnt sind. Dass es sich selbstverständlich um ein Kunststück handelt, verraten uns sowohl die vielen literarischen Andeutungen und Spitzen –eine Fundgrube für intertextuelle Kritiker- als auch die Stellen, in denen Aramburu –zu ungunsten der Authentizität und Glaubwürdigkeit des Ich-Erzählers– der Versuchung nicht widerstehen kann, seine sprachliche Virtuosität wieder einmal unter Beweis zu stellen (das beste Beispiel hierfür sind die „proustianischen“ Fragmente, mit denen bis hin zum letzten Detail der lustvolle Verzehr der Bonbons neben dem Grabstein von Paula Modersohn-Becker beschrieben wird, siehe Seiten 88 und ff).
Meiner Ansicht nach liegt das größte Verdienst des Buches im formalen Aspekt. Viaje con Clara por Alemania ist ein cervantinisches Konstrukt. Die Chronik des Reisebegleiters wirkt zunächst wie eine Art making off des Reisebuches der Schriftstellerin Clara, das sogar manchmal in „übersetzten Auszügen“ wiedergegeben wird (siehe z. B. Seiten 329 und ff.). Wenn wir dann am Ende erfahren, dass der jüngere Bruder des Ich-Erzählers, ein spanischer Verleger, dessen Reisenotizen lesenswert findet und sogar beabsichtigt diese zu publizieren, können wir auch im Buch Reflexionen und Kritiken über das eigene Buch lesen. Auf diese Art und Weise kann Fernando Aramburu in seinem Roman eine Art Poetik des eigenen Schaffens einfügen, die natürlich nicht frei von ironischer Selbstkritik ist.
Zugleich ist dem Autor mit diesem Roman ein raffiniertes Spiel mit den Gattungen geglückt. Denn Viaje con Clara por Alemania ist auch eine Parodie der Gattung des Reiseberichtes. Nicht umsonst werden als Kontrapunkt mehrmals Heinrich Heines Harzreise und Goethes Italienische Reise erwähnt und, wie vorhin schon angedeutet, sind auch die Einflüsse von den parodistischen Reiseromanen Laurence Sternes und Denis Diderots nicht zu übersehen.
Meiner Meinung nach ist eine Übersetzung dieses Buches ins Deutsche mit Nachdruck zu empfehlen. Bis jetzt wurde von Fernando Aramburu lediglich sein Roman Fuegos con limón / Limonenfeuer (Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2000) übertragen, was zu wenig anmutet, wenn man bedenkt, dass wir es mit einem der Hauptvertreter der gegenwärtigen spanischen Literatur zu tun haben. Hinzu kommt, dass, auch wenn natürlich nicht frei von Ironie und Kritik, das Buch zweifelsfrei eine Hommage an Deutschland und an die deutsche Kultur ist. Für den deutschen Leser bietet es einen aktuellen Blick auf das eigene Land, geschrieben von einem außergewöhnlichen Zeugen, nicht nur wegen seiner Beobachtungsgabe, sondern auch, weil er seit über 25 Jahren in Deutschland lebt.

Quelle: http://www.newspanishbooks.de/bericht-lesen/viaje-con-clara-por-alemania

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