Ab B2
"1913" von Florian Illies Am Vorabend der Katastrophe
Florian Illies lässt in seinem neuen Buch die hundert Jahre
zwischen 1913 und seinen heutigen Lesern verschwinden und besichtigt
eine Kultur vor Ausbruch des Weltkriegs. "1913" ist ein gewaltiger
Teaser - und vielleicht das opulenteste Buch zur aktuellen Krise.
Die Ruhe vor dem Sturm - Stadtstreicher in Berlin.
(© SZ-Photo / Scherl)
Im Januar 1913 wurde der Stoff für Ecstasy patentiert, machte
Prada in Mailand die erste Boutique auf und eröffnete in Essen die
Mutter von Karl und Theo Albrecht den Prototyp des AldiSupermarkts. Mit
solchen Daten, die Florian Illies über die ersten Seiten seiner Chronik
des letzten Friedensjahres vor dem Ersten Weltkrieg streut, enthüllt er
den geheimen Mechanismus der unentwegten Hundert-, Hunderfünfzig- oder
Zweihundertjahrfeierei, die unser historisches Gedächtnis im Griff hält.
Die kalendarische Wiederkehr, die pure Astronomie also, schenkt einem
Publikum, das an pathetische Begriffe von Geschichte
nicht mehr glaubt, einen magischen Zutritt in die Vergangenheit: Die
Vergangenheit wird im Durchlauf der Gestirne kurz wieder zur Gegenwart,
die Zeiten stürzen ineinander.Illies hat sich in diesem Gedränge jedenfalls schon einmal gut aufgestellt. Sein Buch endet mit folgender Notiz: "Es ist der 31. Dezember 1913. Arthur Schnitzler notiert in sein Tagebuch ein paar Worte. ,Vormittags die Wahnsinnsnovelle zu Ende dictiert.' Nachmittags liest er: Ricarda Huchs ,Der große Krieg in Deutschland'. Ansonsten: ,Sehr nervös tagsüber.' Dann Abendgesellschaft. 'Es wurde Roulette gespielt.' Um Mitternacht stoßen sie an auf das Jahr 1914."
"Jedenfalls 1913 ist ziemlich harmlos verlaufen"
Es ist selten, dass man den Witz eines Buches in so kurzen Zitaten so erschöpfend zur Anschauung bringen kann. Illies lässt die hundert Jahre zwischen 1913 und seinen heutigen Lesern - das Buch erscheint in diesen Tagen, wird aber auf vielen Weihnachtstischen liegen, mit allen guten Wünschen fürs Neue Jahr 2013 - verschwinden, und fast im selben Moment reißt er den Graben jener Katastrophen auf, die uns von diesem fernen Jahr trennen: "Der große Krieg in Deutschland", ein Buch über den Dreißigjährigen Krieg, wird zum Vaticinium, zur Vorahnung der Epoche der Weltkriege. Was der Tagebuch führende Schnitzler nicht weiß, wissen wir, die Leser von 2012: Diese gerade noch friedliche, an Nervosität leidende, unendlich produktive, sich abends beim Roulette erholende Gesellschaft trieb auf einen Niagara zu, um Jacob Burckhardts Formulierung über die französische Aristokratie vor 1789 zu übernehmen. "Jedenfalls 1913 ist ziemlich harmlos verlaufen", notierte Käthe Kollwitz am Ende, "nicht tot und schläfrig, ziemlich viel inneres Leben."
Robert Musil aber macht sich schon Notizen für ein Riesenwerk, das einmal "Der Mann ohne Eigenschaften" heißen soll, und schreibt: "Ulrich sagte das Schicksal vorher und hatte keine Ahnung." Eigentlich dürfte der heutige Leser im Durchschnitt auch nicht viel mehr Ahnung haben, aber er hat gegenüber den Menschen und Genies, die Illies auf 300 flirrenden Seiten zu Wort kommen lässt, den einen entscheidenden Platzvorteil: Er weiß, was am 1. August 1914 begann.
Genies, das sind ganz überwiegend die Zeugen von Illies. Mit enormem Fleiß und großem Geschick hat er die in Briefen und Tagebüchern am reichsten dokumentierte Phase der Kulturgeschichte für ein einziges Jahr durchforstet und nach Monaten arrangiert, von Januar bis Dezember und gewissermaßen aus dem dpa-Kalender, der in den heutigen Feuilletons die Planungen für Gedenkartikel steuert, ein schönes Lesebuch gemacht. Geschichtsschreibung aus dem Geist der Tageszeitung also, und das passt zur ausgewählten Epoche, die, weil brief- und tagebuchversessen, natürlich auch zeitungsbesessen war.
Und alle, alle treten sie auf, durch Editionen nun mit ihren größten Geheimnissen für uns entblößt: Franz Kafka wirbt auf krankhaft unentschiedene Weise um Felice Bauer, Georg Trakl quält sich mit Inzestphantasien, Karl Kraus verliebt sich in Sidonie von Nadhérny, an der eigentlich auch Rilke interessiert ist, Hitler zieht nach München um, hat aber davor noch Frühjahrstage in Wien verlebt, wo zur selben Zeit auch Stalin durch den Park von Schönbrunn spazierte. Spengler brütet, von Selbstmordgedanken getrieben, am "Untergang des Abendlands", Thomas Mann leidet ein halbes Jahr unter einem Verriss von Alfred Kerr, der Zweifel an seiner Männlichkeit äußert, ist aber längst dabei, eine Novelle zu entwerfen, die bitte nicht "Der Zauberlehrling", sondern "Der Zauberberg" heißen soll.
Am frappierendsten die Ereignisse der bildenden Kunst: Dass "Brücke" und "Blauer Reiter" ihre Bilder malen und Kriege ausfechten, dass Oskar Kokoschka seine krankhafte Leidenschaft zu Alma Mahler auf eine ehebettgroße Leinwand malt - geschenkt! Es gibt sogar Kunstkritiker, die Picasso schon wieder abschreiben - zu schwach! Dabei finden in New York und Berlin die kanonischen Ausstellungen der Moderne statt, die auch unser Bild von ihr noch bestimmen. Aber dass mit dem "Schwarzen Quadrat" von Malewitsch und mit dem ersten Ready Made von Duchamp die bildende Kunst eigentlich schon an ihren elegant-logischen Endpunkten angekommen ist, lässt die Zeit seither ja fast fade erscheinen. Kein Wunder, dass Ludwig Wittgenstein genau gleichzeitig am "Tractatus" arbeitet, auch einem der Bücher, die alle Bücher beenden könnten.
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Gottfried Benns Lider werden schwer beim unentwegten Aufschneiden und Zunähen von Leichen, seine "Morgue"-Gedichte sind also auch nur TagebuchNotizen. Arnold Schönberg fordert nach Tumulten in einem Konzert rechtliche Schritte gegen Musikstörer: Die Avantgarde will ihren Anspruch auf Provokation juristisch verbrieft und polizeilich geschützt haben. Wen wundert's, aber lachen muss man trotzdem. Proust, Joyce, Musil, sie winken nur am Horizont, aber als ferne Riesen sind auch sie dabei.
Gibt es Leitmotive in den faits divers der Hochkultur, gar Thesen? Jedenfalls ein paar Beobachtungen: Allherrschend eine Stimmung von Überspannung, genannt Neurasthenie, die Burn-out-Nähe der hochproduktiven, zugleich mit ihren Trieben kämpfenden Genies. Die Triebe, das allseitige Herumexperimentieren mit Spielarten von Partnerschaft und Sex, die Lust am erotischen Diskursiven in Psychoanalyse und Lebensreform ist das zweite Motiv. Und die vielen Väter-Söhne-Dramen, die allgemeine schwüle Luft von pupertärem Aufbegehren, das dritte.
Ein Buch als gewaltiger Teaser
All das ist gut bekannt und erforscht, es gibt dicke Bücher dazu, und vielfach haben die Zeitgenossen selbst das schon zusammenschauend erkannt. Eine Erzählung, besser: ein Mosaik wie dieses braucht kaum solche Muster. Dass gerade 1913 der kommende Weltkrieg für unmöglich erklärt wurde, mit absolut plausiblen Gründen, nämlich der globalen Wirtschaftsvernetzung, die einen Krieg für die Hochfinanz uninteressant mache, war ja auch seit jeher bekannt. Der Erkenntnissieg des heutigen Lesers bleibt also klein, weil viel zu leicht.
So ist das Buch vor allem ein gewaltiger Teaser, der Lust darauf macht, sich mit den Hervorbringungen dieser schöpferischsten Phase der noch jungen Moderne zu beschäftigen. Dass es dafür ein großes Publikum gibt, beweist jetzt schon der Erfolg der aktuellen Ausstellungsreprisen zur Moderne 1912-2012 in Düsseldorf und Köln. Dass auch Max Weber oder Sigmund Freud durch Illies wieder mehr Leser finden, mag man hoffen. Was aber beweist all dieser in seiner puren Gleichzeitigkeit brillant funkelnde Reichtum? Erst einmal nur Verse von Hofmannsthal, eines Autors, der in diesem Buch ein wenig stiefmütterlich behandelt wird: "Viele Geschicke weben neben dem meinen,/ Durcheinander spielt sie alle das Dasein."
Vielleicht will uns Florian Illies, der empfindsame Diagnostiker des Zeitgeistes, mit seiner Installation nur eine einfache Wahrheit vor Augen führen: Solche Herrlichkeiten, solcher Reichtum können über Nacht zugrunde gehen, kein Friede, kein Wohlstand ist sicher vor dem Weltkrieg. "1913" wäre dann das opulenteste Buch zur Krise.
[...]
Süddeutsche Zeitung
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